Die Gasse des Anis

Drei Generationen Springorum in den Amsterdamer Likörstuben

Springorums im Rinsche-Anisfass

Der erste Schritt

1832 trat Gerardus Hendricus Springorum, Sohn eines Einwanderers, zum ersten Mal durch die Tür einer Brennerei in Amsterdam. Er kam nicht als Meister, nicht als Herr, sondern als Knecht. Seine Hände kannten bisher die Arbeit des einfachen Mannes, doch der Duft, der ihm entgegenschlug, war neu: süß, stechend, betäubend – Anis, Zucker, Branntwein. Die Luft war schwer, und doch lag in ihr das Versprechen eines Brotes.

Die Brennerei lag an der Anjeliersgracht, die später zugeschüttet und zur Anjeliersstraat werden sollte. Damals war sie ein Kanal, träge, stinkend, ein Abfluss für das heiße Abwasser der Fabriken. Das Wasser kochte im Sommer, die Fische starben, die Menschen hielten sich die Nase zu. Aber hinter den Türen der Stube dampften die Kessel, und dort begann Gerardus’ Leben als Likörknecht.

Arbeit und Gefahr

Das Handwerk war hart. Zucker musste getragen, Holz gehackt, Fässer gerollt werden. Der Branntwein floss heiß, und ein falscher Griff konnte Verbrennungen hinterlassen, die ein Leben lang blieben. Gerardus sah Männer fallen, hörte das Zischen, wenn Flüssigkeit den Körper traf. Arbeit und Gefahr – zwei Gesichter desselben Gottes.

Und doch war da auch der Stolz. Die Rezepte waren geheim, die Mischungen ein Schatz. Anis, Kümmel, Kräuter – Tropfen, die den Mund wärmten und den Kopf leichter machten. Likör war Luxus, und wer ihn herstellte, trug ein Stück Welt in Händen. Gerardus wusste: Hier war mehr als Arbeit. Hier war auch Würde.

Meister und Erbe

Sein Sohn und später sein Enkel traten in dieselbe Gasse, durch dieselbe Tür. Einer wurde Knecht, der andere Likörmeister. Drei Generationen atmeten den süß-bitteren Dampf, drei Generationen schwitzten in derselben Halle. Sie trugen den Namen Springorum durch die Anjeliersgracht, während die Stadt um sie herum wuchs, die Straßen voller Wagen, die Grachten voller Müll.

Die Anjeliersgracht war berüchtigt: ein offenes Kloakensystem, ein stinkendes Band durch die Jordaan. Anwohner klagten, Kinder erkrankten, und die Stadt beschloss schließlich, das Wasser zu verschütten und Pflaster darüber zu legen. Aus Gracht wurde Straße, aus Gestank ein Weg, der trocken war. Doch die Erinnerung blieb: Wer hier arbeitete, roch das Süße und das Faule zugleich.

Das Unglück

Die Arbeit brachte auch Unheil. In den Brennereien von Amsterdam ereigneten sich Explosionen, Brände, Unfälle. Ein Funke, ein verschütteter Tropfen Alkohol – und die Halle konnte zur Hölle werden. Auch bei Van Zuylekom, einem der großen Namen der Branche, traf es die Arbeiter. Fässer barsten, Flammen leckten an Balken, Männer schrien. Jeder, der die Stufen zur Brennerei hinaufstieg, wusste: Heute Brot, morgen vielleicht Asche.

Gerardus und seine Nachkommen lebten mit diesem Wissen. Sie banden ihre Schürze fester, sie griffen nach den Werkzeugen, sie schauten dem Risiko ins Gesicht. Denn die Notwendigkeit trieb sie, und hinter der Notwendigkeit lag das Versprechen: ein besseres Leben für die Kinder.

Nachhall

Heute steht an der Westerstraat 178 noch immer ein Geschäft, in dem mit Alkohol gehandelt wird. Fast zwei Jahrhunderte sind vergangen, die Gassen sind sauberer, die Wasserwege längst verschwunden, doch der Handel blieb. Es ist, als ob die Mauern selbst den Geruch von Anis, Zucker und Branntwein gespeichert hätten.

Die Geschichte der Springorums in Amsterdam ist nicht eine von Ruhm und Reichtum, sondern eine von Arbeit und Risiko, von Schweiß und Gefahr. Sie ist die Geschichte einer Familie, die den bitter-süßen Duft von Likör atmete und ihn in ihr Leben schrieb. Drei Generationen standen am Kessel, drei Generationen hörten das Zischen, wenn das heiße Wasser auf Stein traf.

Und noch heute, wenn man durch die Anjeliersstraat geht, scheint der Wind einen Hauch von Anis zu tragen – Erinnerung an jene, die hier ihr Leben in Arbeit gaben.