Der Pfarrer und der Stein

Johannes Springorum (1625–1694) und der Stein, der sprach

Der Glaube des Pfarrers Springorum

Jugend und Berufung

Johannes Springorum wurde 1625 in Dortmund geboren, in einer Stadt, die die Narben des Dreißigjährigen Krieges trug wie Brandmale. Häuser waren zerstört, Felder verwüstet, Familien zerbrochen. Kinder wuchsen mit Geschichten von Hunger, Plünderung und Seuchen auf. Für Johannes war Vergänglichkeit keine Theorie, sondern tägliche Erfahrung: Alles konnte verschwinden, Besitz, Ernte, Menschen. In dieser Welt war der Glaube kein Luxus, sondern Rettungsleine.

Er war der Sohn von Reinhard Springorum und Catharina Vasolt. Während viele den Weg des Handels oder des Handwerks einschlugen, fühlte Johannes sich unwiderstehlich zur Schrift hingezogen. Er sah, wie Worte tragen konnten: eine Predigt, die eine zerbrochene Gemeinde hielt, ein Gebet, das die Stille am Sterbebett brach. Dort lag eine Kraft, die er verstehen und meistern wollte. Früh wusste er: Sein Weg würde nicht der des Schwertes sein, sondern der des Wortes.

1663 trat er sein Amt als Pfarrer in Kirchende an. Ein kleines Dorf, verletzlich und eng, vertraute ihm bald. Die Kirche stand mitten im Ort – und inmitten des Lebens. Hier wurden Kinder getauft, Hochzeiten gefeiert, Tote bestattet. Jeden Sonntag erhob sich seine Stimme unter den Gewölben: ruhig, getragen, mit der Erwartung, dass er Hoffnung geben konnte, wo das Leben sie verweigerte.

Pfarrer in Kirchende

Pfarrer zu sein, hieß mehr als predigen. Es bedeutete, Streit zu schlichten, bei den Herren um Nachsicht zu bitten, den Armen Brot zu geben. Johannes trug diese Last. Seine Schultern bogen sich, aber er brach nicht. Er sah die Augen der Mutter, die ein Kind verloren hatte, den Kopf des Bauern, gesenkt über ein unfruchtbares Feld. Und immer wieder musste er Worte finden, auch wenn er selbst keine mehr spürte.

Seit 1659 war er mit Clara Reinermann verheiratet. Sechs Kinder füllten die Pastorei mit Stimmen, Gelächter, kleinen Schritten. Johannes kannte die Freude des Vaters – und die ständige Angst. Jede Fiebernacht konnte ein Abschied bedeuten. In den Kirchenbüchern standen zahllose kurze Leben, und er wusste: Auch sein Haus war nicht verschont.

Die siebzehnte Jahrhundert brachte keine Ruhe. Wellen von Pest, Ruhr und namenlosen Fiebern brachen über die Menschen herein. Die Kirche füllte sich bis an die Mauern, die Luft schwer von Schweiß und Angst. Johannes sprach dann nicht schön, sondern notwendig. Er versprach keinen Ausweg, aber er hielt die Hoffnung wach, dass das Leid einen Sinn habe. Seine Worte gaben Halt – und manchmal war das alles, was man haben konnte.

Der Verlust

Das härteste Schicksal traf ihn, als seine Tochter Anna Catharina im Alter von siebzehn Jahren starb. Sie war die Hoffnung, die Zukunft, das Lachen im Haus, der Blick, der den Tag heller machte. Ihr Tod war nicht nur eine Wunde im Herzen, sondern ein Riss im Glauben. Wie sollte er andere trösten, wenn seine eigenen Worte zu Staub zerfielen?

Für sie wurde ein Grabstein gelegt – nicht draußen, sondern drinnen, mitten in der Kirche von Kirchende. Der Stein war groß, schwer, tief geschnitten mit ihrem Namen. Ein Denkmal – und eine Last. Jeden Sonntag traten die Gemeindeglieder über ihn hinweg, lasen die Inschrift, flüsterten den Namen. Und über diesem Stein stieg Johannes auf die Kanzel und sprach vom ewigen Leben, während der Name seiner Tochter unter seinen Füßen lag. Sein Amt und seine Trauer waren untrennbar verbunden.

Die Leute sahen sein Leid, aber auch seine Standhaftigkeit. Er taufte weiter, predigte bei Begräbnissen, wiederholte Worte, die er selbst kaum glauben konnte. Und doch schöpften andere aus seiner Ausdauer Kraft: Wenn er das tragen konnte, dann konnten auch sie es. Die Nächte waren dunkel. Clara kannte die Tränen, die kamen, wenn die Kerzen verloschen. Er betete, manchmal laut, manchmal in Stille, manchmal ins Nichts. Doch jeden Morgen stand er wieder auf, zog sein Gewand an und ging zur Kirche. Sein Leben wurde ein Ritual der Beharrlichkeit.

Der Stein wurde zum Zeichen der ganzen Gemeinde. Kinder buchstabierten die Buchstaben, Mütter flüsterten über ihn, Väter legten ihre Hand auf die kalte Fläche. Es war nicht nur die Tochter des Pfarrers, die gestorben war; es war ein Bild der allgemeinen Zerbrechlichkeit. Für Johannes war der Stein zugleich Bürde und Kraft. Er zwang ihn, hinzusehen, und verlieh seinen Predigten ein Gewicht, das kein Buch je hätte geben können.

Vermächtnis

Mehr als dreißig Jahre diente Johannes in Kirchende. Er sah Kinder wachsen, die er getauft hatte, sah sie heiraten und selbst Kinder bringen. Er führte die Gemeinde durch Krankheit, Hunger und Angst vor Krieg. Seine Worte überzeugten nicht alle – aber sie blieben, und das genügte oft.

1694 starb Johannes Springorum. Er wurde in derselben Kirche begraben, in der er sein Leben lang gepredigt hatte – neben dem Stein seiner Tochter. Sein Sohn Johann Georg folgte ihm als Pfarrer nach, und so blieb das Amt in der Familie. Der Name Springorum blieb mit der Kanzel, mit der Kirche, mit Kirchende verbunden.

Und der Stein von Anna Catharina ist noch immer da. Einst lag er im Boden der Kirche, heute hängt er draußen an der Mauer. Besucher können die Buchstaben lesen, die Hand über die verwitterte Fläche legen und sich vorstellen, wie ein Vater einst über diesem Namen stand und vom Leben sprach, während der Tod ihm zu Füßen lag. So bleibt die Geschichte von Johannes Springorum nicht nur die eines Pfarrers in einem westfälischen Dorf, sondern die eines Mannes, der die Last seiner Gemeinde trug – und die schwerere Last seines eigenen Verlustes. Es ist die Geschichte von Worten, die trösten sollten, während sein Herz zerbrach. Und es ist die Geschichte eines Steins, der bis heute spricht.