Das Feuer von Bochum
Verbannung, Rückkehr und die Erinnerung einer Stadt
Die Geschichte von Johann Schriver
Kindheit und Schrift
Bochum war ein Gewirr aus krummen Gassen und windschiefen Fachwerkhäusern, die Dächer mit feuchtem Stroh gedeckt. Rauch hing niedrig über den Traufen, Hühner scharrten im Schlamm, der Markt roch nach Kohl, Heu und Streit. Der Knabe Johann Schriver hielt sich an den Vater, der einst Bürgermeister gewesen war, und lernte früh, wie Autorität aussieht: Sie redet nicht laut, sie hebt die Hand – und der Lärm fällt wie abgeschnitten.
Zu Hause gab es Brei, Bohnen, Roggenbrot, das gepökelte Fleisch streng gewogen. Der Vater erzählte von Grenzsteinen, von Zäunen, vom Brot, das im Boden verborgen liegt und dennoch zwischen Brüdern Zwietracht sät. „Brot macht die Menschen streiten“, sagte er. Johann hörte zu – und von da an hörte er den Markt mit anderen Ohren: Im Grölen schwang Hunger, in jedem Fluch lag Angst.
Eines Abends legte der Vater eine Wachstafel hin. Der Griffel war schwer. Mach ein Zeichen, sagte er. Die Kratzer sahen aus wie gebrochene Zweige. Noch einmal. Immer wieder, bis aus Strichen Buchstaben wurden. Als Tinte kam, gallig im Geruch, beugte Johann sich über das Pergament, die Finger geschwärzt. Er schrieb eine Zeile, die nicht stockte. Er spürte es wie ein Aufrichten im Inneren: Wörter bleiben, wenn Stimmen längst verstummt sind. Sie sind Pflöcke im Boden. Sie halten eine Stadt.
Stadtschreiber und Bürgermeister
Zum Mann geworden, saß Johann am schweren Tisch der Kanzlei, dort, wo die Luft nach Leder und Ruß roch. Er war Stadtschreiber. Zwischen den Fingern lag die Gansfeder, vor ihm die Holztruhe mit Bändern und Siegeln. Wer eintrat, senkte die Stimme: Ein Wort, das zu Tinte wird, ist Verpflichtung. Johann schrieb Felder an Bächen auf, Hennen, die im Zorn geschlagen wurden, Kühe, Pfennige, Heiratsgut. Jede Zeile war ein Knochen im Skelett der kleinen Stadt.
Um 1510 erhob ihn der Rat in den Stand des Bürgermeisters – neben Dirik Syben, zwei Stimmen, die Ordnung bedeuteten. Die Ratsstube war niedrig, der Boden von Stroh bedeckt, der Atem der Männer ging sichtbar in der Kälte. Die Brauer knurrten über die Biersteuer, die Zimmerleute über die Marktstände, die Bauern über Frondienste. Fäuste polterten auf Holz. Johann wartete. Er sprach spät, knapp, und die Stimmen sanken: „Wir sind eine Stadt. Das Brot ist teurer als der Zorn.“
Zu Hause warnte ihn die Frau: „Die Liebe der Leute ist schnell. Heute warm, morgen kalt.“ Er nickte. Er wusste, was es bedeutet, wenn ein Mann an der Spitze steht: Man bindet nicht nur Worte, man bindet Erwartungen – und eines Tages die Schuld.
Der Brand von 1517
Markustag, 25. April 1517. Der Wind nagte an den Läden. Man hatte Kohl gegessen, Brot, ein Ende Speck. Dann der Ruf – Funken im Stroh! Ein Zischen, ein Aufschlag der Flamme, und der Dachfirst stand in Licht. „Wasser!“, schrie Johann, doch der Schrei verbrannte in der Hitze. Eimer liefen, Kinder stolperten in den Gang, der Wind hob die Glut und trug sie weiter: von Dach zu Dach, von Hof zu Hof.
Die Stadt brüllte. Balken barsten, Vieh riss sich los, Hunde jagten winselnd durch den Rauch. Mütter pressten Säuglinge an sich; Männer gaben Befehle, die niemand hörte. Federn flogen brennend, der Takt der Glocke stotterte – dann brach der Turm, und mit ihm die Stimme der Stadt. Der Himmel war rot wie Eisen in der Esse, die Gassen wurden zu Öfen. Es gab kein Oben und Unten mehr, nur Hitze, Rauch, Schreie.
Johann zog den Sohn an der Hand, fühlte die Haut rauh werden vom Funkenflug. Die Frau rief, ihre Stimme war dünn wie ein Seil über Wasser. Er sah Gesichter: Nachbarn, die ihn ansahen – und in ihren Augen, zwischen Angst und Ruß, etwas Hartes: Schuld. „Es hat in seinem Haus begonnen“, zischte einer. Ein anderer: „Gott hat ihn getroffen.“
Er rief Unglück, rief Zufall, rief Wind – aber das Wort „Bürgermeister“ haftete wie Pech. Als der Morgen kam, war Bochum Asche, ein Gerippe gegen den blassen Himmel, und die Leute waren eine einzige Frage: Wer trägt das? Einer zeigte mit dem Kinn. Einer spuckte. Einer schwieg und wich aus. Johann verstand: Ein Mann an der Spitze wird nicht verziehen. Er ist nicht Nachbar, er ist Blitzableiter. Er packte, was zu tragen war, und ging.
Verbannung in Blankenstein
Blankenstein nahm ihn auf. Er wurde Verwalter im Herrenhaus, schrieb Renten auf, Hühner, Hafer, Flachs, Lämmer – sauber, ordentlich, wie eine heilende Bewegung der Hand. Doch wenn die Hand in der Luft verweilte, stand vor ihm nicht das Konto, sondern der Markt von Bochum, die Glocke, die nicht mehr schlug.
Die Blankensteiner sahen ihn an, ein wenig schief, ein wenig zu lange: Der ist es, sagen sie, dessen Haus gebrannt hat. Auf dem Markt brach ein Lachen ab, wenn er kam. Er trug es wie einen Stein im Ärmel. Die Kinder lernten neue Worte; sie spielten andere Spiele. Sie lachten. Er lachte mit – und hörte doch das splittern der Balken seiner Stadt in jedem Husten in der Nacht.
Er arbeitete. Er ging pünktlich. Er schrieb sauber. Und er war abends still. Sieben Jahre sind nicht viel – und doch, wenn sie aus Schweigen gemacht sind, sind sie schwer.
Die Urkunde der Versöhnung
Bochum baute wieder. Balken wurden aufgerichtet, Kalk glühte, Stroh wurde neu gedeckt. 1525 kamen Boten. Der Landvogt von Hattingen hatte vermittelt, Dirik Syben hatte, im Namen der Stadt, die Hand gereicht. Eine Urkunde war geschrieben worden: die Bürger und Gemeinsleute von Bochum entschuldigten sich bei Johann und versprachen, ihn niemals wieder der Brandstiftung zu zeihen. Es war mehr als Tinte: Es war eine Stimme, die sagte Komm.
Johann las sie. In den Zeilen fühlte er das Gewicht seiner eigenen Schrift von früher – wie Worte zu Pflöcken werden, die eine Stadt halten. Er ging zurück, im Frühjahr, wenn das Gras neu wird. Er trat in die Gasse, die sein war. Das Holz roch frisch. Kinder lachten auf dem Platz, der einmal ein Brandherd gewesen war. Eine alte Nachbarin berührte seine Schulter. „Johann“, sagte sie. „Es war eine harte Zeit. Willkommen.“
Er war nicht mehr Bürgermeister. Er wollte es nicht sein. Aber er war wieder Bürger. Der Baum, den man ausgerissen hatte, fand einen Spalt Erde.
Nachhall
Ein Mann, der das Feuer gesehen hat, lebt in einem anderen Licht. Johann stand morgens am Brunnen, und wenn ihn die Feuchtigkeit über die Finger lief, dachte er an den heißen Atem jener Nacht. Er schrieb wieder, saß am Tisch, zog Linien, die Familien verbanden, Felder, Heiratsgüter, Zinsen. Wenn er die Truhe schloss, war da dieses leise, gerade Glück: die Ordnung, die man mit Worten stiftet.
Doch wenn er nachts erwachte, hörte er Balken springen. Er sah Rauch, wo das Dach schwarz und still über ihm war. Er legte die Hand auf die Brust, als wolle er das Herz daran hindern, davon zu laufen. Die Frau atmete neben ihm gleichmäßig. Er dachte an die Urkunde, an die Handschläge, an die Jahre in Blankenstein. Man kommt zurück, sagte er sich, aber man kommt nicht ganz zurück. Ein Teil bleibt immer bei dem, was brannte.
Sein Sohn lernte die Feder. Saß da, wo der Vater gesessen hatte, und schrieb. Der Name Springorum tauchte wieder auf, nicht in Schande, sondern in Dienst. Die Stadt wuchs langsam, so langsam, dass man es an einem Tag nicht sehen konnte, aber in einem Leben doch: aus hundert Häusern wurden mehr, die Kirche stand wieder auf, mit Gewölbe und Turm, die Steuerregister füllten sich, und das Brot schmeckte nicht mehr nach Rauch.
Wenn man heute die Straße entlanggeht, in der einst Strohdecken Feuer fingen, ist es schwer, sich die Nacht vorzustellen, die die Stadt einmal verschlungen hat. Aber irgendwo zwischen den Hölzern der alten Häuser, zwischen den Fugen der Steine, sitzt das Flüstern der Geschichte: Ein Mann trug mehr als seine Last, und eine Stadt hatte die Größe, zu sagen: Wir haben uns geirrt. Komm heim.
Und weil Worte bleiben, wenn Stimmen vergehen, blieb auch sein Recht, sein Name, sein Platz. Das Feuer war nicht sein Werk, aber es wurde sein Schicksal. Die Verbannung war nicht sein Wunsch, aber sie wurde seine Prüfung. Die Rückkehr war nicht sein Verdienst allein, aber sie wurde sein Frieden. So steht Johann Schriver im Gedächtnis der Stadt – nicht als Brandstifter, sondern als der, über den eine Urkunde gesprochen hat: Versöhnung. Und in der Stille, wenn der Wind die Dächer streift, klingt es wie das Blättern von Pergament.